Das Vorarlberger Bildungsprogramm

Das Programm der Vorarlberger Landesregierung für die Regierungsperiode 2019-2024 wurde am 4.11.2019 vom ÖVP-Landesparteivorstand (mit einer Gegenstimme) und von der Landesversammlung der Grünen (mit zwei Gegenstimmen) beschlossen.

Das Bildungsprogramm entspricht nicht den Ansprüchen, die an eine leistungsorientierte Position einer bürgerlichen Partei gestellt werden. Es widerspricht dem Grundsatzprogramm der ÖVP 2015 und der Politik der letzten Bundesregierung unter Bildungsminister Faßmann.

Das Programm hält an der „Gemeinsamen Schule der 10- bis 14-Jährigen“ fest, obwohl wissenschaftlich bewiesen ist, dass die Erwartungen, die man an diese Schulform gestellt hat, nicht erfüllt wurden. 1)
Die Einführung einer Gesamtschule ist auch deshalb nicht sinnvoll, weil in Vorarlberg und Tirol, also überall dort, wo dies versucht wurde, massive Proteste der Beteiligten folgten und alle relevanten Erhebungen der letzten Jahre zeigen, dass die Mehrheit der Bevölkerung die Erhaltung des differenzierten Systems wünscht. 2)
Vor der Entscheidung über eine allfällige Gesamtschule wollen die Gemeinden wissen, wer die Kosten zu tragen hat – die derzeitigen Gymnasien sind Bundesschulen, bei den Pflichtschulen ist die Gemeinde der Schulerhalter.

Das Programm spricht davon, dass eine spätere Bildungsweg-Entscheidung für die Kinder von Vorteil ist – auch hier ist wissenschaftlich längst das Gegenteil bewiesen. 3)

Das Programm hält an den Erkenntnissen des Vorarlberger Forschungsprojektes fest, obwohl hinlänglich bewiesen ist, dass es den Ansprüchen der Wissenschaftlichkeit nicht entspricht. 4)

Das Programm glaubt, dass die Förderung der Kinder entsprechend ihren Interessen und Fähigkeiten in leistungsheterogenen Gruppen besser möglich ist. Auch hier ist das Gegenteil hinlänglich bewiesen. 5)

Die Landesregierung will keine zusätzlichen Sonderpädagogischen Zentren mehr bauen. Auch hier ist es so, dass trotz intensiver Integrationsbemühungen der Volks- und Mittelschulen es immer wieder Kinder gibt, die mit diesem Angebot – aus sehr unterschiedlichen Gründen – nicht zurechtkommen und in die Sonderschule wechseln. Das Programm begründet dies in irreführender Weise mit der UN-Konvention der Rechte für Menschen mit Behinderun-gen. Wenn Kinder mit besonderen Bedürfnissen in sonderpädagogischen Schulen eine bessere Förderung erhalten (etwa durch eine bessere Ausstattung) als in Inklusionsklassen, dann widerspricht eine Reduktion dieses speziellen Förderangebots dem Geist der UN-Konvention.

Die besondere Betonung der verschränkten Ganztagsklassen entspricht nicht dem Wunsch der Bevölkerung – weniger als 10 % wählen dieses Angebot, der Trend ist eher rückläufig.

Die Forderung, alternative Beurteilungsformen in der Grundstufe I wieder zu ermöglichen und zu fördern widerspricht dem Grundsatz nach einer „transparenten und verständlichen Benotung“. 6)

Das Vorhaben, ein flächendeckendes Betreuungsangebot für zumindest 40 % der Kinder von sechs bis 15 Jahren bzw. bei 85 % der allgemeinbildenden Pflichtschulen als Zielsetzung zu definieren, widerspricht dem Prinzip der Wahlfreiheit der Eltern.

Kritisch bewertet wird der Ansatz zur Begabungs- und Begabtenförderung. Per Definitionem kann nur eine Minderheit der Kinder als begabt oder hochbegabt bezeichnet werden. Programme wie etwa eine elementarmusikalische Ausbildung für jedes Kind sind zweifellos sinnvoll, haben jedoch nichts mit Begabungsförderung zu tun. Sinnvoll wäre, sowohl Begabtenförderungsprogramme in „normalen“ Klassen zu forcieren und gleichzeitig spezielle Begabten-/Hoch-begabtenförderungsklassen bzw. Schulen einzurichten. Anleihe für eine derartige Entwicklung könnte im Schigymnasium Stams in Tirol genommen werden, das eine sehr erfolgreiche Hochbegabtenförderungsschule im Sportbereich ist.

  1. Univ.-Prof. Dr. Elmar Tenorth, Die Zeit vom 17. Juni 2010: „Die Gesamtschule hat keines ihrer Versprechen eingelöst….“
  2. NEUE Vorarlberger Tageszeitung, 15.12.2012: „Widerstand gegen Gesamtschule wächst“; Vorarlberg Online-Voting, 23.8.2016: Sind sie für eine gemeinsame Schule? Ja: 24,28 %; Nein: 69,55 %; weiß es nicht: 6,17 %.
  3. Univ.-Prof. Dr. Rainer Dollase, in Hanns Seidel Stiftung (Hrsg.), „Akademiker-schwemme versus Fachkräftemangel“ (2016), S.33, „Die Schulreformen mit der Wir-kungsbehauptung des ‚längeren gemeinsamen Lernens‘ haben keinen Einfluss auf die unterschiedliche Schichtallokation gehabt, also nirgendwo die sogenannte Bildungs-gerechtigkeit hergestellt.”
  4. Univ.-Prof. Dr. Alfred Schirlbauer, NEUE Vorarlberger Tageszeitung, 22.12.2015, S. 14f.über das Vorarlberger Forschungsprojekt: „Erziehungswissenschaft am Tiefpunkt ihrer Entwicklung und gleichzeitig am Höhepunkt ihrer politischen Bedeutsamkeit, weil Dienstbarkeit ….Die Studie liest sich wie ein Fluchtversuch vor den Mühen des Den-kens. ….Wo und wann wurde je überzeugend bewiesen, dass Bildungswegentschei-dungen mit dem 14. Lebensjahr ‚gerechter‘ als die mit dem 10. Lebensjahr sind?“
  5. Mag. Dr. Jörg Spenger u.a., „Under pressure. Berufsvollzugsprobleme und Belastun-gen von Lehrpersonen. Eine empirische Studie.“ (2019), S. 42. „Ganz generell dürfte auch die große Leistungsheterogenität der Klassen ein Stressfaktor für die Lehrper-sonen sein: Fast sechs von zehn Lehrkräften sehen das so, ca. 40 % von ihnen füh-len sich sogar sehr belastet dadurch.“
  6. Univ.-Prof. Dr. Ludwig Wößmann u.a., „Was die Deutschen über die Bildungspolitik denken“ (2014), S. 11. Deutschland: „Mehr als drei Viertel (77 %) der Befragten sind gegen die Abschaffung von Schulnoten, die Hälfte ist sogar ‚sehr‘ dagegen. Gleichzei-tig spricht sich eine überwiegende Mehrheit von 79 % dafür aus, dass SchülerInnen mit schlechten Leistungen die Klasse wiederholen müssen.“