Kurzanalyse der Vorarlberger Gesamtschulstudie
Kurzanalyse des Papiers „Schule der 10- bis 14-Jährigen in Vorarlberg: Empfehlungen und zentrale Ergebnisse, 22.5.2015 (Böheim-Galehr, Marte-Stefani, Beck, Schratz)
Vorbemerkungen:
1) Am 19.2.2013 hat die Vorarlberger Landesregierung den Auftrag zur Durchführung des Forschungsprojekts „Schule der 10- bis 14-Jährigen“ gegeben. Zu diesem Zeitpunkt dürfte die politische Entscheidung zugunsten einer „gemeinsamen Schule“ schon gefallen sein – v.a. durch die Auswahl der beiden Professoren Engleitner und Schratz, die als Gesamtschulbefürworter gelten. Schratz erklärte am 31.1.13 vor der Schulgemeinschaft des BG Lustenau, dass nur eine „gemeinsame Schule“ die anstehenden Probleme werde lösen können. Bereits am 18.9.2013 erklärte ein Mitglied der Expertengruppe „Pädagogisches Konzept, Inhalte und Umsetzung“ den Austritt aus der Gruppe, da das „‘Projekt der Schule der 10- bis 14-Jährigen‘ die Zerschlagung der AHS-Langform zum Ziel habe, von einem ergebnisoffenen Prozess nicht die Rede sein könne und sie an der Auflösung der gymnasialen Langform nicht mitarbeiten werde. Der Vorschlag für die Nachbesetzung dieses Platzes in der Gruppe mit einem deklarierten Befürworter des Gymnasiums wurde abgelehnt.
2) Es handelt sich nur um ein „Forschungsprojekt“, das keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt, denn wissenschaftlich arbeiten heißt, auch mit einer Gegenthese zu arbeiten und zu verifizieren. Streng genommen handelt es sich dabei um „eine kommentierte Eltern-Schüler-Lehrer“-Befragung.
3) Dass eine Studie politisch vermarktet wird, die noch gar nicht veröffentlicht wurde, widerspricht jeder wissenschaftlichen Seriosität.
4) Die verschiedenen Empfehlungen beinhalten einen zusätzlichen Personalaufwand, der realistischer Weise in den nächsten zehn Jahren nicht zu leisten sein wird.
Kritisch zu sehen ist:
– Das Ziel der ‚inneren Differenzierung‘ kann für die AHS-Unterstufe nur zusätzlich gelten, da hier ja primär homogene Lerngruppen angestrebt werden.
– Die Behauptung, dass eine Verschiebung der Bildungswegentscheidung die schulischen Chancen verbessere, ist wissenschaftlich und aus der Erfahrung nicht zu belegen, im Gegenteil!
– Auf die Feststellung, dass die Noten der Volksschule als Entscheidungskriterium für die Bildungswegentscheidung wenig geeignet seien, folgt der Schluss „Das zweigliedrige System passt nicht mehr zur Schulrealität“. Das ist nicht nachvollziehbar – vielmehr gilt es, das Aufnahmeverfahren zu verbessern bzw. den Aussagewert der Zeugnisnoten der 4. Klasse Volksschule zu steigern – damit ist der LSR für Vorarlberg derzeit beschäftigt. Für die Behauptung, „es gelinge nicht mehr, leistungshomogene Gruppen in AHS und NMS zu schaffen“ fehlt der Beweis.
– Die Empfehlung, in der Aus- und Fortbildung und in der Forschung auf „Die Bedeutung der emotionalen Beziehung zwischen Lehrkräften und Schülern“ zu achten, ist so selbstverständlich, dass sie fast als beleidigend aufgefasst werden kann.
– Die möglichen Auswirkungen auf das bestehende berufsbildende Schulwesen werden nicht erfasst. Die geplante Schule der 10- bis 14-Jährigen ersetzt sowohl NMS als auch AHS-Unterstufe. Maßnahmen zur Verhinderung einer neuerlichen Schnittstellenproblematik sind nicht erkennbar.
– Die gemeinsame Schule der 10- bis 14-Jährigen ist zuerst auf die Bewältigung schulischer Ausbildungswege ausgerichtet. Die möglichen Auswirkungen auf die dualen Ausbildungswege werden nicht erfasst.
– Ebenso bleibt unklar, wie die Schülerströme an der verbleibenden Schnittstelle beeinflusst und neu entstehende Spitzen in Richtung bestimmter weiterführender Schulen vermieden werden.
– Die Empfehlung des verstärkten Einsatzes der pädagogischen Diagnostik durch die Lehrerteams missachtet die bereits knappen personellen Ressourcen. Job-Enrichment zur Umsetzung diverser Empfehlungen der Experten verkennt zeitliche und psychische Belastungsgrenzen des Lehrpersonals.
– Die Eltern werden als maßgebliche Größe bei allen Laufbahnentscheidungen erkannt. Dass elterliche Fehlentscheidungen maßgeblich für Schulversagen sein können, wird nicht erkannt. Welche Maßnahmen zur Einbindung der Eltern vorgesehen sind, ist nicht erkennbar. Wenn die gesetzlichen Rahmenbedingungen im Grunde zu einer Beschneidung der Schulautonomie führen sollen, um eine Gemeinsame Schule durchsetzen zu können, so müssen gesetzliche Änderungen auch die Verantwortlichkeit der Eltern umfassen.
– Von den Lehrpersonen wird die Bereitschaft gefordert, “pädagogische Konzepte umzusetzen, die alle Schüler entsprechend ihren Fähigkeiten und Interessen gleichermaßen fördern und auch fordern”, was unmöglich ist, da es diese Konzepte weltweit noch nicht gibt.
– Es wird mitgeteilt, dass eine Verschiebung der Bildungswegentscheidung auf einen späteren Zeitpunkt darauf abzielt, “den Einfluss des sozioökonomischen Hintergrunds des Elternhauses zu verringern”. Nicht erwähnt wird, dass
a. die NMS laut dem vom BMBF in Auftrag gegebenen und im März 2015 präsentierten Evaluierungsbericht dies allen politischen Versprechungen zum Trotz nicht schafft, und
b. das bestehende differenzierte Schulwesen Österreichs den Einfluss des sozioökonomischen Hintergrunds des Elternhauses während der Sekundarstufe I deutlich verringert, während diese Abhängigkeit in anderen Staaten während der Sekundarstufe I stark anwächst.
– Es wird ausgeführt, dass schulübergreifende Testungen “in den Ergebnissen sehr große Leistungsüberschneidungen von AHS- und NMS Schülern” zeigen; nicht erwähnt wird der enorme Leistungsunterschied, der zwischen AHS einerseits und NMS/HS andererseits durch die Bildungsstandard-Testungen auf der achten Schulstufe aufgezeigt wurde.
– Es wird behauptet, dass Vergleichsstudien der OECD “zeigen, dass im Hinblick auf die Chancengerechtigkeit des Bildungssystems eine spätere Bildungswegentscheidung vorteilhafter ist.” Ignoriert wird eine Flut an bildungswissenschaftlichen Erkenntnissen, die das Gegenteil nachweisen.
– Die Aussage “Es würde Lehrpersonen helfen, wenn sie mehr über die Wirksamkeit ihres pädagogischen Handelns wissen und dadurch ihr unterrichtliches Handeln neu ausrichten können.” suggeriert, dass es den Lehrerinnen und Lehrern am Wissen “über die Wirksamkeit ihres pädagogischen Handelns” fehlt, was zurückzuweisen ist.
– Die Behauptung “Schulische Tagesbetreuung, insbesondere die Angebote verschränkter Ganztagesklassen, haben positive Auswirkungen auf Chancengerechtigkeit, auf individuelle Interessen- und Begabungsförderung und auf den Umgang mit Vielfalt.” ist angesichts der bildungswissenschaftlichen Erkenntnislage, aber auch vor dem Hintergrund des vor zwei Monaten erschienenen NMS-Evaluierungsberichts grotesk
Positiv zu werten sind:
– Die Sprachförderung – für Schüler mit nichtdeutschem Hintergrund –muss bereits vor der Schule im Kindergarten verstärkt werden und sich durch alle Schulstufen fortsetzen.
– Es wird empfohlen, Lehrpersonen ausschließlich in Fächern einzusetzen, für die sie eine Lehrbefähigung erworben haben.
– Für die Umsetzung einer förderorientierten Schule der 10- bis 14-Jährigen, die von einem pädagogischen Team gelenkt wird, sind entsprechende personelle, strukturelle, organisatorische und finanzielle Ressourcen notwendige Voraussetzungen für die Realisierung der vereinbarten Ziele.
– Es wird empfohlen, Schulen der Sekundarstufe I mit besonderen Herausforderungen mit zusätzlichen Ressourcen über ein indexbasiertes System zu unterstützen.
– Es wird empfohlen, das gegenwärtige Übertrittsverfahren von der Volksschule in die Schulen der Sekundarstufe I weiter zu entwickeln.
– Es wird empfohlen, am Ende der Sekundarstufe I bundesweit geeignete Verfahren der Leistungsfeststellung einzuführen, die als Basis für die Zuerkennung von Übergangsberechtigungen zur Sekundarstufe II dienen können.